Die Fassadenskulpturen am Gebäude der Leipziger Stadtbibliothek
Das alte Grassi-Museum, das von 1895 bis 1929 das Museum für Völkerkunde und das Museum für Kunstgewerbe beherbergte, war mit einer prunkvollen Fassade auf den ehemaligen Königsplatz (Wilhelm-Leuschner-Platz) hin ausgerichtet. In die Architektur der Fassade eingestellter figürlicher Schmuck hatte die Aufgabe, auf die Funktion des Gebäudes einzustimmen. Je vier Relieffiguren wiesen auf die Sammelgebiete und Unterabteilungen der beiden Teilmuseen hin.
Für die Davorstehenden auf der linken Seite stehen vier Figuren für das Völkerkundemuseum, dessen Exponate aus unterschiedlichen Teilen der Welt stammen. Daher sind an der Fassade vier Erdteile repräsentiert.
Auf der rechten Seite schließen sich vier Figuren an, die auf das Kunstgewerbemuseum verweisen. Sie stellen vier kunsthandwerkliche Gewerbe dar.
Beide Vierergruppen setzen sich aus je zwei männlichen und zwei weiblichen Figuren zusammen. Die weiblichen Figuren sind außen – an den linken und an den rechten Rändern – angeordnet und blicken nach innen. So werden beide Bildgruppen in sich abgeschlossen und gerahmt. Die männlichen Figuren sind jeweils nach außen, das heißt in Richtung der außen stehenden weiblichen, orientiert. Körperhaltungen und besonders Blickrichtungen der Köpfe teilen also beide Vierergruppen rein formal in zwei je zwei Figurenpaare auf.
Die Vierergruppen werden durch einen Kopf der Stadtgöttin „Lipsia“ getrennt.
Vier Figuren für das Völkerkundemuseum
Es hat eine lange Tradition in der europäischen Kunst, unterschiedliche Kontinente durch weibliche Personifikationen zu versinnbildlichen. Sie unterscheiden sich durch unterschiedliche Tönung der Hautfarbe, ihre zum Teil fantasievolle Bekleidung und die ihnen zugeordneten Attribute – wie Tiere (etwa Elefant oder Krokodil für Afrika) oder sinnbildliche Gegenstände (etwa eine Waffe oder ein Füllhorn als Zeichen des Wohlstandes). Die Figuren an der Leipziger Fassade dagegen erheben den Anspruch, konkrete Bewohner der jeweiligen Erdteile wiederzugeben. Vertreten sind (von links nach rechts): Ozeanien, Nordamerika, Asien, Afrika. Drei dieser Figuren schuf der Bildhauer Carl Seffner – vor allen bekannt durch das Goethe Denkmal auf dem Leipziger Naschmarkt, die vierte (die Frau aus Ozeanien) Adolf Lehnert (beide Leipzig).
In dieser Reihe fehlt Europa. Die Auswahl der Erdteilfiguren an der Fassade verweist damit auf die grundsätzliche Ausrichtung des Museums: Im 19. Jahrhundert blickte Europa auf den „Rest der Welt“ herab. Museen für „Völkerkunde“ sollten den Europäern die außereuropäische, oft „koloniale“ Welt ins Haus bringen, die europäische Geschichte, Kunstgeschichte oder „Volkskunde“ waren eigenen Museen vorbehalten. In ihrer Unterordnung unter den europäischen Herrschaftsanspruch bilden die vier Kontinente eine Gemeinschaft. Entsprechend treten ihre Vertreterinnen und Vertreter scheinbar selbstbewusst und würdevoll in Erscheinung, sind aber in unmodernen Welten gefangen. Dabei sind sie untereinander noch einmal deutlich unterschieden: Die Repräsentanten Ozeaniens, Nordamerikas und Afrikas verharren in naturnahen Zuständen und werden mit Jagd- oder Kampfhandlungen verbunden, denen sie mit archaischen Waffen nachgehen. Sie sind spärlich bis kaum bekleidet. Dem Wettbewerbsbegleittext des Künstlers Carl Seffner zufolge habe er die Afrikanerin im Zustand der „Urexistenz“ angelegt ([1], Seite 1394). Hochgeschlossen gewandet ist dagegen der Chinese als Vertreter Asiens, der in der zeitgenössischen Tracht eines Beamten auftritt. Er ist als Angehöriger einer „Hochkultur“ in seiner Gruppe scharf abgesetzt, wird aber als rückwärtsgewandter Traditionalist gekennzeichnet. Kleidung und Attribute verweisen auf eine äußerst verfeinerte Lebensart, die jedoch keine Hinweise darauf erkennen lässt, in der technisierten Welt der Moderne mithalten zu können.
Die Figuren für die vier Erdteile, besonders die Gesichter, tragen prägnant, aber nicht karikaturenhaft ausgearbeitete ‚ethnische‘ Züge. Dem eurozentrischen Blick der Zeit konnte dieser ‚ethnische‘ Realismus durchaus als hässlich erscheinen, wie es etwa Clara Licht, die Gattin des Architekten Hugo Licht, im Falle der Afrikanerin empfand ([6], Seite 130). Ein anderer Kritiker dagegen sah in dieser Figur die von Reisenden beschworene Schönheit afrikanischer Menschen aufscheinen ([1], Seite 1394). Die Frauenfiguren, die links und rechts außen Ozeanien und Afrika repräsentieren, erweisen sich insgesamt als sehr komplex. Bei ihnen ist die Bekleidung noch stärker zurückgenommen als im Falle des Nordamerikaners, sie sind fast nackt. Das konstruierte Thema „Naturvölker“ bot einen scheinbar zwangsläufigen Anlass, (nahezu) unbekleidete Frauenkörper in Szene zu setzen. Komposition und Haltung der beiden Figuren dagegen entsprechen den schon in der Antike ausgebildeten Schönheitsvorstellungen der akademischen europäischen Kunst – für männliche und weibliche Körper. Erst die Hintergrundszenen, die Attribute und die Kopfdarstellungen erschaffen den außereuropäischen Kontext. Insbesondere die Vertreterin Ozeaniens, die ruhig und in austarierter Haltung frontal aus dem Bild hervortritt, steht in direkter Tradition des klassisch-griechischen Ideals der Darstellung eines Menschen. Der Kritiker der „Leipziger Zeitung“ hat 1895 diesen Zusammenhang erfasst, als er schrieb, der Künstler habe die Figur in erster Linie als „hübsch“ in Erscheinung treten lassen wollen ([2], Seite 2039). Auf ein in der Regel besonders positives Echo der Kritiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts stieß die Figur der Afrikanerin ([1], Seite 1394 fortführend; [2], Seite 2039).
Vier Figuren für das Kunsthandwerk
Die Darstellungen der vier handwerklichen Gewerbe, die für die Sammlungen des Museums für Kunstgewerbe stehen (der Textilkunst, der Glasmalerei, der Töpferkunst und der Goldschmiedekunst) unterscheiden sich voneinander noch stärker als die Darstellungen der Erdteile. Dabei erscheinen die Unterschiede kaum inhaltlich motiviert. Drei der Reliefs wurden von Jacob Ungerer (München) ausgeführt, eines (die Glasmalerei) durch den Leipziger Adolf Lehnert ([5], Seite 46). Die Gewerbe werden einerseits durch zwei Figuren vertreten, die das jeweilige Handwerk konkret ausüben (Glasmalerei, Töpferkunst). Sie tragen Arbeitstracht (zum Teil historisierend) und sind in die Betrachtung ihrer gerade ausgeführten Werke versunken. Zwei weitere Figuren üben die handwerkliche Tätigkeit nicht aus, sondern versinnbildlichen sie lediglich (Textilkunst, Goldschmiedekunst). Sie sind mit Werkzeugen und Produkten des jeweiligen Gewerbes ausstaffiert, blicken aber versonnen aus dem Bild. Sie tragen keine Handwerkertracht, sondern sind mit idealen Gewandungen und zum Teil nur spärlich bekleidet. Die aktiven Handwerker sind männliche Figuren, die passiven Personifikationen weibliche. Die ruhig dastehenden halbnackten Frauen rahmen, wie erwähnt, die Gruppe. Offensichtlich wurden die Figuren aus den Entwürfen verschiedener Künstler so ausgewählt, dass sie aus der Fernsicht eine formal durchkomponierte und ausgewogene Gruppe ergeben. Darunter hat die inhaltliche Eindeutigkeit stärker gelitten als im Falle der Erdteile, von denen drei Figuren von einer Hand stammen.
Belege:
[1] von U., Die Entwürfe für den figürlichen Schmuck an der Façade des Grassi-Museums. In: Leipziger Zeitung, 19.04.1893, Seiten 1394-1395
[2] Grassimuseum: Völkerkunde – Kunstgewerbe. Begonnen November MDCCCXCII – Vollendet Mai MDCCCXCV (1895). In: Leipziger Zeitung, 13.06.1895, Seiten 2038-2039
[3] Vierundzwanzigster Bericht des Museums für Völkerkunde in Leipzig 1896, Leipzig 1897, Seite 27: unter anderem 896 von Bildhauer Carl Seffner übernommen „3 Reliefs in Gyps, eine Negerin, einen Indianer und einen Chinesen darstellend“
[4] Hans-Christian Mannschatz, Die Leipziger Stadtbibliothek. Grassi auf dem Dach und Klinger im Hof: Die Geschichte des Alten Grassimuseums am Wilhelm-Leuschner-Platz in Leipzig. Beucha 2001
[5] 125 Jahre Museum für Kunsthandwerk Leipzig Grassimuseum. 2/1: Die Museumschronik von den Anfängen bis zum Jahr 1929, herausgegeben von Olaf Thormann und anderen, Leipzig 2003
[6] Clara Licht, Tagebücher. 1882-1912. Herausgegeben von Mark Lehmstedt. Leipzig 2023